
- September 5, 2020September 5, 2020
»Ich kann sie nicht davon abhalten, den Amazonas zu vernichten. Was ich hingegen tun kann, ist einen Baum zu pflanzen.«
W. S. (William Stanley) Merwin gehörte zu den wichtigsten US-amerikanischen Dichtern, er lebte von 1927 bis 2019. Aufgewachsen in New Jersey und Pennsylvania, kultivierte er zunächst Wörter und wurde ein namhafter und preisgekrönter Lyriker, ein Autor und Übersetzer von mehr als 50 Büchern. W. S. Merwin war Preisträger der meisten einschlägigen literarischen Auszeichnungen, inklusive zweier Pulitzer-Preise 1971 und 2009. In der Zeit des Vietnam-Kriegs engagierte er sich in der Friedensbewegung, sein Schreiben ist unter anderem vom Buddhismus und der Tiefenökologie beeinflusst. In den späten 1970er Jahren kam Merwin nach Maui, der zweitgrößten Insel des Archipels Hawaii im Pazifischen Ozean. 1977 erstand er im Pe’ahi Valley an der Nordküste Mauis eine Fläche von 1,2 Hektar Ödland, die einmal zu einer Ananas-Plantage gehört hatte. Dort wuchs zu dem Zeitpunkt kaum mehr etwas, weil der Boden durch Pestizideinsatz und Abholzung zugrundegerichtet worden war. Mervin erzählte von seinen Motiven zu dem scheinbar unvernünftigen Kauf: »Das Land war für sehr wenig Geld zu haben. Der Zustand des Bodens entmutigte mich nicht so sehr, ich dachte mir vielmehr, dass es Freude machen könnte, auszuprobieren, was sich aus dem Gelände noch machen ließe – vielleicht könnte ich es ja irgendwie noch retten. Schon lange hatte damals ich auf die Gelegenheit gewartet, einmal ein Stückchen der Erdoberfläche, die fast überall durch den menschlichen ›Fortschritt‹ zugrundegerichtet wird, wiederherzustellen.« An seine erste Begegnung mit dem Land erinnerte er sich so: »Der Hang gefiel mir, wie er da ganz ohne Beeinträchtigung durch den Lärm von Maschinen dalag, und wie der Wind des Spätsommers durch die gelbbraunen, trockenen Gräser fuhr.«
Zu den wenigen Pflanzen, die dort noch wachsen wollten, gehörte die auf Hawaii einheimische Palme. Also begannen Merwin und seine Frau Paula den Boden zu verbessern und während der Regenzeit täglich einen weiteren Baum zu pflanzen. Die Samen für die Setzlinge hatte W. S. Merwin aus der ganzen Welt zusammengesammelt. Die jungen Palmen wurden so lange mit Kompost, Gartenabfällen und mit in Eimern herbeigetragenem Abwaschwasser versorgt, bis ihre Wurzeln in die Tiefe gewachsen waren und sie selbstständig gedeihen konnten.
Das Ehepaar Merwin lebte ebenfalls vom Regenwasser, das sie in auf dem Gelände verteilten Zisternen auffingen. Dieses Wasser wird durch die Schwerkraft »gepumpt« und durch Schichten von Holzkohle, Sand und Korallen gefiltert und so trinkbar gemacht. Tatsächlich spiegelt so gut wie jeder Aspekt von Haus und Garten die Vorstellungen und Gefühle W. S. Merwins hinsichtlich der Natur und der Kunst. Das Grundstück ist so gestaltet, dass es einen hohen Grad an Selbstversorgung ermöglicht. Als er das Fundament für das Haus legte, achtete Merwin darauf, das Land nur im Ausnahmefall durch die Nutzung schwerer Maschinen zu stören; den Gebrauch von Zement beschränkte er auf den Bau dreier Zisternen, des Werkstattbodens sowie der Fundamente des Hauses. Bereits seit einem Vierteljahrhundert wird das Gebäude nun mit Solarstrom versorgt. Der vom Blätterdach geworfene Schatten hält das tropische Haus auf natürliche Weise kühl – fast 3000 Palmen aus rund 400 Arten und 125 Gattungen wachsen heute auf dem Gelände.
Gefragt, wie denn das Dichten und das Gärtnern zusammenpassten, antwortete Merwin: »Beide Beschäftigungen entspringen letztlich derselben Quelle. Von Anfang an gehe ich beim Bestellen des Gartens ziemlich intuitiv vor, ständig lerne ich dazu, von Rückschlägen ebenso wie von Erfolgen. Beim Gärtnern führt immerzu eins zum anderen – und genau so verhält es sich auch beim Dichten: Meiner Erfahrung nach ist es so, dass jedes echte Gedicht den Dichter förmlich überrumpelt.«
Mit seinem Garten hatte Merwin eigentlich nicht beabsichtigt, so etwas wie einen Arche-Noah-Schutzpark für seltene Palmen aufzubauen. Doch laut Chipper Wichman, dem Direktor des Hawaiian National Tropical Botanical Garden, hat der Dichter genau das geschaffen: »Wir haben hier so etwas wie ein genetisches Sicherheitsnetz [zur Erhaltung der Palmen-Vielfalt]«, sagt Wichman in einem Fernsehbeitrag über den Palmengarten. Dieses Sicherheitsnetz sei sehr wertvoll, denn Abholzung, invasive Arten und die Erderhitzung setzen den Palmengewächsen weltweit zu. »Wir wissen heute, dass 80 bis 90 Prozent der Biodiversität des Planeten in tropischen Regionen zu finden ist; ein Drittel dieser Arten ist vom Aussterben bedroht. Palmen spielen in diesen Ökosystemen eine Schlüsselrolle.«
Die Familie der Palmengewächse enthält 183 Gattungen mit etwa 2600 rezenten Arten. In der Familie findet sich das längste Blatt (bei Palmen der Gattung Raphia mit bis zu 25 Meter Länge), der größte Samen (von der Seychellenpalme Lodoicea maldivica mit bis zu 22 Kilogramm Gewicht), und der längste Blütenstand des Pflanzenreichs (in der Gattung Corypha) mit einer Länge von etwa 7,5 Metern und geschätzten 10 Millionen Blüten pro Blütenstand).
Angeführt vom britischen Experten John Dransfield haben sich Mitarbeiter des Botanischen Gartens im Jahr 2013 an die Aufgabe gemacht, sämtliche Palmen in Merwins Garten zu identifizieren und zu katalogisieren, die Fläche zu kartographieren. Die daraus entstandene Datenbank steht heute Forscherinnen und Forschern auf der ganzen Welt zur Verfügung.
Bereits im Jahr 2010 hatte W. S. Merwin gemeinsam mit seiner Frau die »Merwin Conservancy« gegründet; die Organisation widmet sich dem Erhalt ihres abgelegenen und selbsterrichteten Hauses und des auf etwa 7,7 Hektar angewachsenen Palmengartens, der zu den größten und artenreichsten der Welt zählt.
Über den eigenen Garten hinaus engagierte W. S. Merwin sich zudem für die Pflege und Wiederherstellung der Reste des ursprünglichen Regenwalds auf Maui. Und während es höchst unsicher ist, dass Luther tatsächlich gesagt hat, er würde auch dann noch ein Apfelbäumchen pflanzen, wenn er wüsste, dass die Welt morgen untergeht, so darf das folgende Zitat wohl mit Fug und Recht W.S. Merwin zugeordnet werden: »On the last day of the world I would want to plant a tree.«